Paul Kildea: Benjamin Britten. A Life in the Twentieth Century [Jürgen Schaarwächter]

Kildea, Paul: Benjamin Britten. A Life in the Twentieth Century. – London: Penguin, 2013. – xvii, 666 S.: s/w-Abb.
ISBN 978-1-846-14232-1 : £ 30,– (geb.)

Dass sich Britten gut verkauft, hat Paul Kildea vor gut zehn Jahren in seinem Buch Selling Britten. Music and the Market Place (Oxford University Press 2002) eindrucksvoll unter Beweis gestellt; nun möchte er selbst von dem Interesse an Britten profitieren, obschon seine neue Biografie (außer der unhaltbaren These, dass seine Herzkrankheit von einer früheren unerkannt gebliebenen Syphilis-Infektion herrührte) nicht viel Neues bringt. Die Veröffentlichung einer Auswahl von Briefen Brittens (6 Bände, Faber und Boydell) sowie aus den Jugendtagebüchern hat jene Informationen, die Humphrey Carpenter in seiner vor zwanzig Jahren erschienenen immer noch nicht ins Deutsche übersetzten Standardbiografie zusammentrug, derart stark erweitert, dass es heute schwierig ist, in einer Biografie neue Aspekte hinzuzufügen. Dies gelingt Kildea in seiner in England vielbeachteten und -verkauften Biografie nicht – im Gegenteil wird Brittens „dunkle Seite“, wie er es selbst nannte, seine Pädophilie mehr verschwiegen denn ausgedrückt. In der Tat schreibt Kildea, der dem Aldeburgh Festival von 1999 bis 2002 vorstand, bis zu einem gewissen Grad eine Art Britten-Apologie. Er verknüpft Leben und Werkgenese auf das Dichteste, wirft neues Licht auf einige der Kompositionen, sein Band ist äußerst gut lesbar und eine gute Einführung in den Komponisten Britten, wenn man nicht schon acht andere Bücher gelesen hat.
Dennoch fehlen (fast naturgemäß) bestimmte Aspekte. Kildea kümmert sich kaum um das zeitgenössische musikalische Umfeld, in dem Britten lebte, das ihn befruchtete (oder auch nicht), noch um seine Verortung in der musikalischen Tradition (ein Desiderat der Britten-Forschung bis heute). Wichtige Punkte (etwa dass Britten in der Schule vergewaltigt wurde) verwirft er als nicht genügend faktenbasiert. Er spült Britten sozusagen weich, verklärt den maliziösen und berechnenden Komponisten, der immer wieder die Bestätigung seines Egos brauchte und andere vor den Kopf stieß. Er befasst sich kaum mit dem komplizierten Verhältnis zwischen Britten und der Gesellschaft seiner Zeit, in der sich der Komponist einerseits durch seine Homosexualität angreifbar machte, auf die er andererseits gleichzeitig angewiesen war und deren Nähe er suchte und die ihm (oder er ihr) innerlich doch fern blieb. In diesem Kontext bleibt etwa die Frage, wie es ihm gelingen konnte, mit Peter Grimes (als Kriegsdienstverweigerer, der während des Krieges zunächst aus Europa geflüchtet war) unmittelbar nach dem Krieg einen in der britischen Operngeschichte fast beispiellosen Erfolg zu verbuchen, unbeantwortet, ebenso wie es Britten und Peter Pears gelang, in einer Zeit, da Homosexualität strafbar war, strafrechtlicher Verfolgung und gesellschaftlicher Ächtung zu entgehen.
Die Referenzbiografie, die Leben und Werk angemessen verbindet, ist Paul Kildea nicht gelungen, aber eine gut gemachte Publikation, die als Einführung in Leben und Werk Benjamin Brittens geeignet ist. Es sollte aber nicht beim Lesen dieser einen Biografie bleiben …

Jürgen Schaarwächter
Karlsruhe, 14.07.2013

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